Die Jüdische Gemeinde Siegen (1884–1943)
Zentrale Persönlichkeit der Siegerländer Judenheit war der 1834 in Hohenlimburg geborene Textilkaufmann Meier Leser Stern (Bildmitte). Das Foto wurde am 6. Oktober 1920 auf dem Fest der Goldenen Hochzeit des Ehepaars Stern aufgenommen. Sterns Frau Sara, Jahrgang 1850, war eine geborene Lenneberg und eine Enkelin von Isaac Rosenberg. Wann genau Meier Leser Stern (auch: Meyer Löser Stern) als Viehhändler nach Siegen gezogen war, ist nicht bekannt, doch gehörten die Sterns zu den sieben jüdischen Familien, die 1870 urkundlich erwähnt wurden. Das Ehepaar hatte fünf Kinder: Julius (1871–1927), Hermann (1874–1942), Jenny (1875–1930), Emil (1877–1942), Betty (1890–1942). Der älteste Sohn Julius übernahm das väterliche Textilgeschäft in der Sandstraße und leitete es bis zu seinem Tod 1927.
Meier Leser Stern war Mitgründer der Synagogengemeinde Siegen und von Beginn an bis Oktober 1921 deren Vorsitzender. Anschließend wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Die Siegener Zeitung würdigte ihn 1914 zu seinem 80. Geburtstag mit den Worten: „Er hat die ursprünglich nur aus wenigen Familien bestehende Religionsgesellschaft zu einer staatlich anerkannten Religionsgemeinde erhoben. Seine unbestrittenen Schöpfungen sind ferner die hiesige jüdische öffentliche Volkshochschule, die der Stadt zur Zierde reichende Synagoge und die Anlegung des neuen jüdischen Friedhofs in der Hermelsbach.“ Meier Leser Stern starb am 15. Oktober 1924, seine Frau Sara am 2. Februar 1933. Acht ihrer 18 Enkel konnten rechtzeitig auswandern und überlebten die Schoah in Australien, England, Israel und den USA.
Ab 1867 kamen vor allem jüdische Händler- und Kaufmannsfamilien aus Dörfern in den benachbarten Regionen des Sauerlands und des Wittgensteins in die wachsende Industriestadt Siegen. Sie waren Teil einer Wanderungsbewegung, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im gesamten Deutschen Reich zu beobachten war: Mit dem Bau des Eisenbahnnetzes und der Industrialisierung zogen mehr und mehr Landbewohner in die Städte, in denen sie sich ein besseres Leben erhofften. 1871 erhielten mit der Gründung des Kaiserreiches die Juden zum ersten Mal in der deutschen Geschichte die rechtliche und gesetzliche Gleichberechtigung und wurden damit der christlichen Bevölkerungsmehrheit gleichgestellt. Hohe Positionen in Staat und Militär blieben ihnen jedoch im Kaiserreich weiterhin verwehrt.
In Siegen stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden von 23 (1870) auf 111 (1880) an, sodass der Wunsch nach einem strukturierten Gemeindeleben immer größer wurde. Zum Vergleich: Die Siegener Einwohnerschaft wuchs im selben Zeitraum von rund 11.000 auf 15.000 Personen. Der Anteil der Juden an der Stadtbevölkerung lag also bei unter einem Prozent. Insgesamt lebten zu jener Zeit 512.000 Juden im Deutschen Reich; die meisten von ihnen in Berlin.
Wie überall, wo sich Juden dauerhaft niederlassen wollten, erwarben auch die Siegener Juden als erstes ein Grundstück für einen Friedhof: 1871 auf dem Lindenberg. Auf das Jahr 1871 geht auch die Einrichtung einer privaten Religionsschule zurück. Sie wurde 1885 staatlich anerkannt und war bis 1915 in Betrieb. 1884 wurde schließlich die offizielle Jüdische Gemeinde gegründet, für die ihr Vorsitzender Meier Leser Stern sieben Jahre später, 1891, „aufm Obergraben“ ein Grundstück für den Bau einer Synagoge erwarb. Es dauerte jedoch ein weiteres Jahrzehnt, ehe Stern im September 1902 den Antrag auf eine Baugenehmigung stellte. Die Synagoge, die Platz für 90 Männer und 70 Frauen bot, wurde am 22. Juli 1904 eingeweiht. Bis dahin hatte sich die Siegener Judenheit zu Gottesdiensten in ihren Häusern versammelt oder in gemieteten Räumlichkeiten wie etwa in einer Gaststätte oder einem Fabrikgebäude. 1912 konnte sie sich ein weiteres Gräberfeld auf dem städtischen Hermelsbacher Friedhof einrichten. Um die sozialen Belange der Gemeinde kümmerte sich der 1900 gegründete Israelitische Frauenverein.
Zur Gemeinde rechneten sich während der gesamten Zeit ihres Bestehens um die hundert Mitglieder: 127 (1885), 97 (1900), 130 (1925) und 122 (1933). Während die Zahl der Juden in etwa gleich blieb, wuchs die Stadtbevölkerung auf knapp 33.000 Personen an. Weitere rund hundert Jüdinnen und Juden wohnten in Dörfern des Kreisgebiets. Sie standen jedoch zumeist nur in losem Kontakt zur Siegener Gemeinde und versammelten sich wie in Hilchenbach und Littfeld in eigenen Betstuben. Allenfalls an den hohen Feiertagen wie Pessach oder Jom Kippur besuchten sie den Gottesdienst in Siegen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog erstmals eine aus Polen stammende ostjüdische Familie nach Siegen.
Die Siegener Juden waren zumeist Viehhändler, Metzger und Kaufleute, die im Laufe der Zeit vor allem rund um den Markt in der Oberstadt kleine Geschäfte eröffneten. Zu relativem Wohlstand gelangten die wenigsten von ihnen; die große Mehrheit gehörte dem Kleinbürgertum an, lebte in ärmlichen Verhältnissen und musste jeden Tag aufs Neue ums wirtschaftliche Überleben kämpfen. In ihrer Frömmigkeit waren die Siegener Juden traditionell geprägt, aber auch für Neuerungen aufgeschlossen, wie der Einbau eines Harmoniums in die Synagoge zeigt.
Eine Orgel konnte die Gemeinde ebenso wenig finanzieren wie einen Rabbiner, sodass die jüdischen Lehrer als Prediger und Kantoren tätig waren. Der bedeutendste unter ihnen war der 1870 im ostwestfälischen Pömbsen geborene Gastwirtssohn Simon Grünewald, der von 1897 bis zu seiner erzwungenen Auswanderung im Juni 1939 in Siegen wirkte. Grünewald starb im Dezember 1939 in New York, wenige Wochen nach seiner Ankunft in den USA.
Der Lehrer, Prediger und Kantor Simon Grünewald (1870–1939) war neben Meier Leser Stern die zweite zentrale Persönlichkeit der Jüdischen Gemeinde Siegen. Die undatierte Aufnahme zeigt Grünewald im Kreis seiner Schülerinnen und Schüler.
Politisch waren die Juden im Siegerland zumeist kaisertreu beziehungsweise deutschnational-konservativ. So war es keine Frage, dass sich ihre jungen Männer freiwillig zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg meldeten: 32 jüdische Soldaten aus dem Siegerland kämpften für das Deutsche Kaiserreich, acht von ihnen kehrten von den Schlachtfeldern nicht zurück. Besonders patriotisch gesinnt war der Kantor und Lehrer Grünewald. 1915 veröffentlichte er ein Bändchen mit „Kriegsgedichten“, in dem zu lesen war:
So ist nun des Siegerländers Art:
Die Außenseite ist rauh und hart,
Sein Sinn aber ist bieder, seine Seele ist mild;
Und wo es Großes zu leisten gilt, –
Zu seinem Ruhm es verkündet sei:
Der Siegerländer ist immer dabei!
Die Siegerländer Juden lebten in einer besonderen Gegend: In der vom streng religiösen Calvinismus und der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus geprägten Region hatte über drei Jahrzehnte hinweg der christlich-soziale Hofprediger und Politiker Adolf Stoecker (1835–1909) seinen Wahlkreis. Stoecker zählte zu den führenden Köpfen der antisemitischen Bewegung, die ab 1879 zunehmend in die Öffentlichkeit ging: Als es nach dem Börsenkrach von 1873 zur ersten großen Wirtschaftskrise des 19. Jahrhunderts kam, entstand in Deutschland eine besonders aggressive Form der Judenfeindschaft. Uralte antijüdische Stereotypen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, verbanden sich mit dem modernen Antisemitismus: Christlich-religiöser Antijudaismus, Neid auf den sichtbaren Erfolg vieler Juden und die ungebrochene Definition des Deutschen Reichs als christlichen Staat verbanden sich mit einer neuen pseudowissenschaftlichen Ideologie. Dieser Ideologie zufolge ließ sich die Menschheit in unterschiedliche Rassen aufteilen, von denen angeblich einige höherwertiger waren – die Germanen etwa – und andere minderwertiger. Die Juden waren nun weder eine Religion noch eine Nation, sondern eine grundsätzlich andersartige und noch dazu minderwertige „Rasse“: Sie wurden entmenschlicht und mit Krankheitserregern, Insekten oder Parasiten gleichgesetzt, die man „beseitigen“, „ausmerzen“, „vertilgen“, „unschädlich machen“, „entfernen“ und „ausrotten“ durfte. Der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Juden und Christen wandelte sich in den weit folgenreicheren und schließlich todbringenden Gegensatz zwischen Juden und Deutschen.
Stoecker machte mit seiner judenfeindlichen Hetze den Antisemitismus „hoffähig“ und wurde später von den Nationalsozialisten als „Prophet des Dritten Reiches“ gefeiert. Im Siegerland erzielte er außerordentlich gute Wahlergebnisse; 1887 etwa wurde er mit 77,9 Prozent der Stimmen in den Reichstag gewählt. Der Siegener Historiker Ulrich Friedrich Opfermann fasst die Atmosphäre im Kaiserreich mit „Christlichkeit, bürgerlicher Anstand und Antisemitismus als Synthese“ zusammen. So war es nicht verwunderlich, dass das Siegerland zu einer Hochburg der Nationalsozialisten werden konnte: Bei den letzten demokratischen Wahlen im November 1932 erhielt die NSDAP 56,1 Prozent der Stimmen – der Durchschnitt im Deutschen Reich lag bei 33,1 Prozent.
Nicht erst in der NS-Zeit, sondern bereits in den Umbruchswirren zu Beginn der Weimarer Republik kam es in Siegen zu judenfeindlichen Ausschreitungen. Obwohl rund 100.000 jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich kämpften und 12.000 von ihnen getötet wurden, machten auch im Siegerland konservative und demokratiefeindliche Kräfte die Juden für die Niederlage des Kaiserreiches verantwortlich. Ihr demonstratives Bekenntnis zum Deutschtum hatte den Siegerländer Juden nichts genützt: Die wahrheitswidrige Parole „Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht“ war auch in Siegen zu hören und zu lesen. Anfang Juni 1920 wurde in der Nacht vor der Enthüllung einer Gedenktafel für die jüdischen Opfer des Krieges die Synagoge mit antisemitischen Parolen beschmiert.
Im Kaiserreich und auch in der Weimarer Republik, in der das deutsche Judentum seine Blütezeit erlebte, kam es in Siegen über geschäftliche Verbindungen hinaus kaum zu gesellschaftlichen Kontakten zwischen der kleinen jüdischen Minderheit und der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Anders als etwa im vierzig Kilometer entfernten Laasphe, wo die Juden im Kleinstadtleben integriert waren, gehörten nur sehr vereinzelt Siegener Juden den örtlichen Vereinen an. In Parteien oder lokalpolitischen Gremien waren sie nicht vertreten. „Laasphe war die Ausnahme, Siegen die Regel“, so Historiker Opfermann.
Die Siegerländer Juden unterschieden sich in ihrem Äußeren in nichts von den Siegerländer Christen, sie trugen die gleichen Kleider, Anzüge, Hüte und Frisuren. Für die christlichen Siegerländer blieben ihre jüdischen Nachbarn gleichwohl eine „höchstens bedingt zur Volksgemeinschaft zählende Minderheit“ (Opfermann).
Siegener Juden berichten in ihren Erinnerungen sowohl von einem gutnachbarlichen Verhältnis zu einzelnen Christen als auch von einem weitgehenden Nebeneinander von Juden und Christen. „Die jüdische Gemeinde lebte in einem selbstgewählten Ghetto“, so Hugo Herrmann (1898–1993), der Sohn des letzten Gemeindevorsitzenden Eduard Herrmann und einer der wenigen Überlebenden, die nach der Schoah nach Siegen zurückkehrten. Hugo Hermann, wie sein Vater Soldat im Ersten Weltkrieg, hatte in den 1920er Jahren eine zionistische Gruppe in der Gemeinde gegründet, die allerdings nur eine Außenseiterrolle spielte. Im März 1940 konnte er mit seiner Familie nach Palästina auswandern. Sein Vater Eduard verließ Siegen im August 1940, wurde jedoch bei der Sprengung des Auswandererschiffs „Patria“ im November 1940 im Hafen von Haifa getötet.
Text: Uwe von Seltmann (2021)
Die Außenseite ist rauh und hart,
Sein Sinn aber ist bieder, seine Seele ist mild;
Und wo es Großes zu leisten gilt, –
Zu seinem Ruhm es verkündet sei:
Der Siegerländer ist immer dabei!