
Zum 40. Jahrestag der Pogromnacht wurde 1978 am Eingang des Bunkers ein schmiedeeisernes Tor angebracht, auf dem ein siebenarmiger Leuchter (Menorah) zu sehen ist.
Der Entwurf der Menorah, die zu den zentralen Symbolen des Judentums zählt, geht unter anderem auf Klaus Dietermann (1949–2017) zurück. Dietermann, der in zahlreichen Publikationen die Schicksale der Siegerländer Juden vor dem Vergessen bewahrt hat, war Gründer und langjähriger Vorsitzender des Aktiven Museums Südwestfalens sowie Geschäftsführer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland.
Zeittafel
321
In einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin an den Stadtrat der Colonia Agrippina (Köln) werden zum ersten Mal Juden auf heutigem deutschem Territorium urkundlich erwähnt. Alte Legenden berichten jedoch davon, dass jüdische Händler und Sklaven bereits vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr.) mit den ersten römischen Legionären an den Rhein gekommen waren.
um 900
Jüdische Kaufleute lassen sich am Rhein nieder und gründen die ersten Gemeinden seit der Antike. Mainz, Speyer und Worms werden zu Zentren des mittelalterlichen Judentums. Weitere bedeutende Gemeinden entstehen in Köln und Regensburg. Juden und Christen leben weitgehend friedlich zusammen.
1090
Kaiser Heinrich IV. stellt die Juden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation unter seinen Schutz.
1096
Im Mai 1096 kommt es zu einem ersten Bruch in der Geschichte der Juden in Deutschland. Während des Ersten Kreuzzugs ermorden christliche Kreuzritter vor allem im Rheingebiet tausende Juden.
1097
Das spätere Siegen wird als „Sigena“ zum ersten Mal urkundlich erwähnt.
Um 1175
Siegen wird auf einer Münze als „civitas“ (Stadt) bezeichnet.
1215
Das 4. Laterankonzil, das der judenfeindliche Papst Innozenz III. einberufen hat, fordert in zahlreichen Erlassen die Absonderung der Juden von den Christen. Die bereits im Neuen Testament begründete Judenfeindschaft wird für die christliche Theologie und Frömmigkeit immer zentraler. Die jüdische Minderheit wird mehr und mehr in eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Außenseiterrolle gedrängt.
1253
In einem Vertrag zwischen dem Kölner Erzbischof und dem örtlichen Grafen von Nassau werden zum ersten Mal Juden in Siegen urkundlich erwähnt.
1272
Ein Wormser Machsor (Gebetbuch) enthält den ältesten erhaltenen Satz in jiddischer Sprache.
1349/50
Während der Pestepidemie werden zehntausende Juden verfolgt und ermordet. Die Pestpogrome löschen das mittelalterliche jüdische Leben in Deutschland weitgehend aus, vermutlich auch das in Siegen. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) erlebt das Judentum wieder einen Aufschwung. Bis ins 19. Jahrhundert hinein leben Juden weitgehend verstreut in Dörfern auf dem Lande.
1543
Der Reformator Martin Luther (1483–1546) veröffentlicht seine folgenreiche Schmähschrift Von den Juden und ihren Lügen.
1671
Kurfürst Friedrich Wilhelm I. erlaubt 50 aus Wien vertriebenen jüdischen Familien die Ansiedlung in der Mark Brandenburg. Die Gründung der jüdischen Gemeinde in Berlin gilt als Beginn der jüdischen Moderne.
1729
In Dessau wird Moses Mendelssohn (gestorben 1786 in Berlin) geboren, die zentrale Figur der jüdischen Aufklärung.
1738
Am 4. Februar wird der Stuttgarter Hofjude Joseph Oppenheimer am höchsten Galgen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vor 12.000 Schaulustigen gehängt.
1781
Der preußische Beamte Christian Wilhelm Dohm fordert, den Juden Bürgerrechte und Gleichstellung zu gewähren.
1797
Benjamin Moses erwirbt in der Exklave Burgholdinghausen ein Grundstück und bekommt die Erlaubnis, ein Haus zu bauen. Er ist der erste namentlich erwähnte Jude im Siegerland.
1807
Im Königreich Westphalen werden unter napoleonischer Herrschaft erstmals auf deutschem Boden Juden den christlichen Bürgern rechtlich gleichgestellt.
1810
Israel Jacobson eröffnet in Seesen bei Göttingen den Reformtempel. Das Ereignis gilt als Gründungsdatum des Reformjudentums.
Mit dem Händler Isaac Rosenberg wird zum ersten Mal ein Jude in Siegen namentlich erwähnt.
1812
Im Preußischen Emanzipationsedikt werden Juden als „Einländer“ und „Preußische Staatsbürger“ bezeichnet. Ihre Rechte gelten jedoch nur eingeschränkt.
1815
Auf dem Wiener Kongress werden die napoleonischen Rechte für Juden rückgängig gemacht.
1817
Als nach den napoleonischen Kriegen das Fürstentum zu Oranien-Nassau seine deutschen Territorien gegen Luxemburg eintauscht und an Preußen abtritt, beginnt eine neue Epoche in der Geschichte des Siegerlands: Es wird 1817 dem Regierungsbezirk Arnsberg der Provinz Westfalen im Königreich Preußen angegliedert. Durch den Anschluss an Preußen werden die historischen Bindungen nach Süden aufgelöst. Das Siegerland wird nach Westfalen hin ausgerichtet, von dem es bis dahin durch eine jahrhundertealte politische, kulturelle, sprachliche und konfessionelle Grenze getrennt gewesen war.
1819
Von Würzburg aus verbreiten sich antijüdische Ausschreitungen („Hep-Hep-Unruhen“) über das gesamte deutsche Gebiet.
1843
Isaac Rosenberg erhält nach drei Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzungen mit den städtischen Behörden als erster Jude das Bürgerrecht der Stadt Siegen.
1848/49
Juden kämpfen in der Märzrevolution und in der Frankfurter Nationalversammlung für Einigkeit, Recht und Freiheit.
In Siegen wird mit Isaac Lenneberg einem zweiten Juden das Bürgerrecht gewährt.
1859–1867
In der Stadt Siegen sind nach dem Wegzug beziehungsweise der Auswanderung nach Amerika keine Juden gemeldet.
1861
Das Siegerland wird mit Eröffnung der Linien Hagen-Siegen und Köln-Siegen an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Die entlegene Region wird nun leichter erreichbar und erlebt einen Schub der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung.
ab 1867
Aus den benachbarten Regionen des Sauerlands und Wittgensteins ziehen jüdische Kaufmanns- und Händlerfamilien in die wachsende Industriestadt Siegen. 1870 sind sieben Familien verzeichnet, zu denen auch die des Kaufmanns Meier Leser Stern gehört. Stern ist bis zu seinem Tod 1924 die zentrale Persönlichkeit der Siegener Judenheit.
1871–1918
Kaiserreich: In der Verfassung des neugegründeten Deutschen Reiches werden die Juden den Christen rechtlich gleichgestellt. Gleichwohl bleiben den Juden hohe Positionen in Staat und Militär weiterhin verwehrt.
1871
Die Siegener Juden erwerben auf dem Lindenberg ein Grundstück für einen Friedhof und errichten eine private Religionsschule, die 1885 staatlich anerkannt wurde.
1879
Der Begriff „Antisemitismus“ wird geprägt. Der moderne Antisemitismus betrachtet das Judentum nicht mehr als Religion oder Nation, sondern als minderwertige „Rasse“.
1881
Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, einer der führenden Köpfe der antisemitischen Bewegung, hält in der Siegener Hammerhütte eine programmatische Rede. Von 1881 bis 1893 und von 1898 bis 1908 repräsentiert er den Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf im Reichstag. Das Siegerland wird zu einer Hochburg der Judenfeindlichkeit.
1882
Der Lehrer Felix Coblenz (1863–1923) tritt in Siegen seinen Dienst an und erhält „die Concession zur Eröffnung einer israelitischen Privatschule in Siegen“.
1884/85
Im März wird die Synagogengemeinde Siegen gegründet. Ein Jahr später sind 127 Juden in Siegen gemeldet und 107 im Kreisgebiet, die jedoch zumeist nur lose Kontakte zur Siegener Gemeinde pflegen.
1889
Meyer Lilienfeld (1866–1908) wird als Nachfolger von Felix Coblenz Lehrer und Kultusbeamter der jüdischen Gemeinde Siegen. Er wirkt bis 1897 in der Stadt.
1891
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Meier Leser Stern, erwirbt am 25. März „aufm Obergraben“ ein Grundstück für den Bau einer Synagoge.
1897
Simon Grünewald (1870–1939) wird zum dritten und letzten Lehrer, Prediger und Kantor der Synagogengemeinde Siegen berufen. Nach Schließung der jüdischen Schule war er bis zu seiner Pensionierung 1930 Lehrer an der evangelischen Stadtschule in Siegen. Für die Gemeinde war er bis zu seiner Flucht im Juni 1939 tätig. Grünewald ist neben Meier Leser Stern die zweite zentrale Persönlichkeit des Siegerländer Judentums.
1900
Siegener Jüdinnen gründen den Israelitischen Frauenverein, der sich um die sozialen Belange der Gemeinde kümmert.
1902
Am 24. September reicht Meier Leser Stern bei der Bezirksregierung in Arnsberg den Antrag für die Baugenehmigung einer Synagoge ein, am 9. Dezember die Entwurfskizze des preußischen Regierungs- und Baurats Eduard Fürstenau.
1903
Am 23. Juli wird der Grundstein für die Siegener Synagoge gelegt. Bereits am 16. Oktober kann das Richtfest gefeiert werden.
1904
Mit einem auch überregional beachteten Festakt wird am 22. Juli die Siegener Synagoge feierlich eingeweiht. Anders als in anderen Städten kamen jedoch weder der Bürgermeister noch die Geistlichen der evangelischen und katholischen Kirchen zur Einweihungsfeier.
1912
Die Jüdische Gemeinde errichtet auf dem städtischen Hermelsbacher Friedhof ein Gräberfeld.
1914–1918
32 jüdische Männer aus dem Siegerland kämpfen im Ersten Weltkrieg für das deutsche Kaiserreich, acht von ihnen sterben auf den Schlachtfeldern.
1919–1933
In der Weimarer Republik erlebt das deutsche Judentum seine Blütezeit. Zugleich ist es vom wachsenden Antisemitismus bedroht. Obwohl rund 100.000 jüdische Soldaten am Ersten Weltkrieg teilnahmen – etwa 12.000 von ihnen starben -, weisen konservative und demokratiefeindliche Kräften den Juden die Schuld für die Niederlage zu.
1919
Wie überall ist auch im Siegerland die judenfeindliche Parole:„Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengraben nicht“ zu lesen und zu hören. Lehrer Grünewald wendet sich am 27. Januar 1919 in der Siegener Zeitung mit einer Protestnote an die Öffentlichkeit.
1920
Anfang Juni wird in der Nacht vor der Enthüllung einer Gedenktafel für die jüdischen Opfer des Krieges die Synagoge mit antisemitischen Parolen beschmiert.
1924
Meier Leser Stern, der Gründungsvorsitzende und seit 1921 Ehrenvorsitzende der Synagogengemeinde Siegen, stirbt am 15. Oktober im Alter von 90 Jahren.
1932
Bei den letzten freien Wahlen im November 1932 erhält die NSDAP im Siegerland 56,1 Prozent der Stimmen – der Durchschnitt im Deutschen Reich liegt bei 33,1 Prozent.
1933–1945
Mit der Ernennung des Judenhassers Adolf Hitler zum Reichskanzler beginnt die Entrechtung und Verfolgung der deutschen Juden. Der nationalsozialistische Rassenwahn führt während des Zweiten Weltkriegs zur Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa.
1938
In den Mittagsstunden des 10. November setzen Siegener SA- und SS-Männer die Siegener Synagoge in Brand. Die große Zahl der Schaulustigen verhält sich teilnahmslos. Die Männer der Siegener jüdischen Gemeinde werden verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert. Viele von ihnen werden sich nach ihrer Freilassung von den Schikanen nicht mehr erholen.
1939
Mit dem Überfall auf Polen beginnt Deutschland am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg.
Die letzten der 24 jüdischen Firmen und Geschäfte in Siegen werden „arisiert“ und von zumeist Siegener Geschäftsleuten zu einem Schnäppchenpreis übernommen.
1940
Nachdem die Siegener Juden die Kosten für den Abbruch der Ruine ihrer Synagoge zu tragen hatten, müssen sie auch das Grundstück weit unter Wert verkaufen. Fast auf den Tag genau 36 Jahre nach Einweihung der Synagoge – am 20. Juli 1940 – erwirbt die Stadt Siegen das Grundstück und errichtet dort einen Luftschutzbunker.
1941
Bis zum Verbot der jüdischen Auswanderung am 23. Oktober 1941 verlassen etwa vierzig Prozent der Siegerländer Juden ihre Heimat.
1942/43
Die letzten Jüdinnen und Juden aus dem Kreis Siegen werden in die Vernichtungslager deportiert: 40 am 28. April 1942 nach Zamość nahe Belzec deportiert, 24 am 27. Juli 1942 nach Theresienstadt und 15 am 28. Februar 1943 nach Auschwitz.
1945
Am 8. Mai unterzeichnet Nazi-Deutschland seine bedingungslose Kapitulation. Das „Dritte Reich“, das tausend Jahre dauern sollte, hat nach zwölf Jahren sein Ende genommen.
1945–1948
Einige tausend überlebende deutsche Juden und Rückkehrer errichten wieder die ersten jüdischen Gemeinden. Über 200.000 ostjüdische Flüchtlinge (Displaced Persons) machen Deutschland vorübergehend zu einem Zentrum des europäischen Judentums. Mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 verlassen die meisten Juden das „Land der Mörder“.
1948
Auf Betreiben der US-amerikanischen Militärregierung wird am 9. Juli in München die erste Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gegründet.
1950
Am 19. Juli wird in Frankfurt am Main der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet.
1957
Das letzte jüdische DP-Camp* Föhrenwald wird geschlossen.
* DP=Displaced Persons
1959
Am 10. März gründet sich in Siegen die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland e.V. Geschäftsführender Vorsitzender wird Hugo Herrmann (1898–1993), der einzige Siegener Jude, der sich nach der Schoah wieder längerfristig in Siegen niederließ.
1963–1965
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess führt in der Bundesrepublik zu einer ersten Debatte über den Umgang mit der NS-Vergangenheit.
1965
Am 9. November wird zum ersten Mal am Platz der zerstörten Siegener Synagoge an die Reichspogromnacht von 1938 erinnert. An der Außenwand des Hochbunkers wird eine Gedenktafel angebracht.
1979
Die US-amerikanische Serie Holocaust bringt den Völkermord an den Juden ins kollektive Bewusstsein der westdeutschen Gesellschaft.
1990–2005
Mit der Einwanderung von über 200.000 Juden aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Judentums.
1996
Am 10. November wird im Hochbunker auf dem Grundstück der Synagoge der Gedenk- und Lernort des Aktiven Museums Südwestfalen eröffnet.
2005
Im Zentrum Berlins wird das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ eingeweiht.
2019
Am 9. Oktober 2019 versucht in Halle (Saale) ein Rechtsterrorist, die Besucher des Jom-Kippur-Gottesdienstes zu ermorden. Bei dem Anschlag tötet er zwei unbeteiligte Passanten. Der Täter wird am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
2021
Mit einem Festakt wird am 21. Februar in Köln das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ eröffnet.
Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland beteiligt sich mit einem Großereignis am Jubiläumsjahr: Am 9. November soll an der Außenwand des Bunkers die Multimedia-Präsentation „Virtuelle Rekonstruktion der Siegener Synagoge“ gezeigt werden.
Text: Uwe von Seltmann (2021)