Die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Warschau
Das Foto zeigt die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Warschau, die am 16. Mai 1943 auf Befehl des Detmolder SS-Generals Jürgen Stroop gesprengt worden war. Auf ihrem ehemaligen Standort befindet sich heute ein Finanzhochhaus, an dessen Außenfassade die Video-Installation projiziert wurde.
Die Multimedia-Installationen zu den Jahrestagen des Warschauer Ghettoaufstands am 19. April 2018 und am 18. April 2019 sowie – pandemiebedingt – am 26. September 2020 wurden von bis zu 7000 Besuchern vor Ort und mehreren Tausend weltweit per Live-Stream gesehen.
Im Zentrum des Open-Air-Events in Siegen steht die Video-Installation mit der virtuellen Rekonstruktion der Siegener Synagoge. Mit dieser soll abwechselnd die Video-Installation zur Großen Synagoge Warschau an die Wand des Hochbunkers projiziert werden. Warum zwei Installationen? Zum einen, um die Verbundenheit des deutschen mit dem polnischen Judentum aufzuzeigen, und zum zweiten, weil Warschau zu einem doppelten Symbol geworden ist: Es steht – neben Auschwitz – für die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Deutschen und zugleich für den jüdischen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror.
Die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Warschau fand weltweite Beachtung und rief ein internationales Medienecho hervor. Das Foto zeigt die Titelseite von Afn Shvel, einem „gesellschaftlich-literarischen Journal“, das in jiddischer Sprache in New York erscheint (Ausgabe vom Juli 2018).
Deutsche und polnische Juden blicken auf eine fast tausendjährige gemeinsame Geschichte zurück. Sie begann nach den Kreuzzügen Ende des 11. Jahrhunderts und vor allem nach den Pestpogromen 1350, als das Judentum in deutschen Landen weitgehend ausgelöscht wurde. Die Überlebenden der Pogrome zogen in das Königreich Polen, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden. Sie nahmen ihre Sprache mit, die um 1000 in den jüdischen Gemeinden der Rheingegend entstanden war: Jiddisch. Im Laufe der Jahrhunderte kam es mehrfach zu Wanderungsbewegungen in die Gegenrichtung: Hunderttausende polnische Juden zogen nach Deutschland, einige nach dem Ersten Weltkrieg auch nach Siegen. Das jüdische Leben in Deutschland ist ohne polnische Juden nicht denkbar: Die Politikerin Rosa Luxemburg (1871–1919), der Philosoph Martin Buber (1878–1965), der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) und viele mehr waren prägend für jüdisches Leben in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren zwei Drittel der rund 20.000 in Deutschland lebenden Juden in Polen geboren worden.
Bis zum Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 war Warschau eines der Zentren des europäischen Judentums. In keiner anderen Stadt in Europa lebten mehr Juden als in der polnischen Hauptstadt: 1939 waren es knapp 370.000, fast ein Drittel der Stadtbevölkerung. Im November 1940 errichteten die deutschen Besatzer das Warschauer Ghetto, in das sie bis zu 450.000 Frauen, Männer und Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen auf engstem Raum einpferchten, bevor sie die Bewohner in die Vernichtungslager deportierten und ermordeten; unter ihnen auch viele deutsche Juden. Am 19. April 1943 widersetzten sich zumeist junge Jüdinnen und Juden den Deportationsbefehlen und erhoben sich gegen die Besatzer. Obwohl nur unzureichend bewaffnet, leisteten die jüdischen Kampfeinheiten über Wochen hinweg heftigen Widerstand, ehe der Aufstand niedergeschlagen wurde. Nur wenige der rund 750 aktiven Kämpferinnen und Kämpfer überlebten die Schoah.
Für den 75. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands am 19. April 2018 entwickelte Gabriela von Seltmann ein Multimedia-Projekt, das vor Ort Tausende Besucher anlockte und weltweit Aufsehen erregte: Auf der Fassade eines Finanzhochhauses ließ sie mit einer dreidimensionalen Video-Installation die Große Synagoge wieder auferstehen. Das 1878 erbaute Wahrzeichen des einst blühenden jüdischen Lebens in Warschau war am 16. Mai 1943 auf Befehl des SS-Generals Jürgen Stroop gesprengt worden. Was mit der Zerstörung der deutschen Synagogen am 9./10. November 1938 begonnen hatte, schien mit der Sprengung der Großen Synagoge von Warschau ein Ende gefunden zu haben. Stroop feierte die Zerstörung als „unvergessliche Allegorie des Triumphes über das Judentum“.
Die Video-Installation dient also nicht zuletzt auch dazu, nicht Hitler und Stroop – und damit Hass, Tod und Vernichtung – das letzte Wort zu überlassen, sondern öffentlich und mit allem Nachdruck zu bekunden: Das Judentum lebt! Wir Juden leben – und wir verstecken uns nicht, sondern wir zeigen uns in aller Öffentlichkeit! Und auch die jiddische Sprache, die vor der Schoah von drei Millionen polnischen Juden gesprochen wurde, lebt!
Im Soundtrack zur Video-Installation ist eine historische Originalaufnahme des Kantors der Großen Synagoge, Gershon Sirota (1874–1943), zu hören. Sirota wurde zu Beginn des Warschauer Ghettoaufstands am 19. April 1943 ermordet. Ein Tag später wurde Michał Klepfisz erschossen, Mitglied der Jüdischen Kampforganisation und Freund des Anführers des Ghettoaufstands, Marek Edelman (1919–2009). Michał Klepfiszs Tochter Irena, geboren 1941 im Warschauer Ghetto, ist mit einem Ausschnitt aus ihrem jiddisch-englischen Gedicht Bashert zu hören. Die Lyrikerin überlebte die Schoah mit gefälschten Papieren in einem katholischen Waisenhaus. Mit ihrer Mutter, die ebenfalls mit gefälschten Papieren überlebt hatte, kam sie 1950 – nach vier Jahren in Schweden – nach New York. Eine polnische Übersetzung der Verse wird von Paula Sawicka vorgetragen, Weggefährtin Marek Edelmans und Co-Autorin des auch ins Deutsche übersetzten Buches Die Liebe im Ghetto (Schöffling-Verlag, 2013).
These words are dedicated to those who died
because death is a punishment
because death is a reward
because death is the final rest
because death is eternal rage
These words are dedicated to those who died
Bashert
These words are dedicated to those who survived
because life is a wilderness and they were savage
because life is an awakening and they were alert
because life is flowering and they blossomed
because life is a struggle and they struggled
because life is a gift and they were free to accept it
These words are dedicated to those who survived
Bashert
Ausschnitt aus dem Gedicht „bashert“ von Irena Klepfisz