Die Geschichte der Juden in Siegen und im Siegerland bis 1867

Der erste namentlich bekannte Jude des Siegerlandes lebte nicht in der Stadt Siegen, sondern in dem kleinen Dorf Burgholdinghausen am äußersten Rand des Fürstentums Nassau-Siegen. Es war ein Handelsknecht namens Benjamin Moses, der aus Attendorn im Sauerland stammte und 1797 ein Grundstück auf dem Rittergut erwerben durfte. Das war ihm nur möglich, weil Burgholdinghausen eine Exklave war: Das Sieben-Häuser-Dorf gehörte zu den Ländereien des Freiherrn zu Fürstenberg, der den Juden wohlgesonnen war, weil sie ihm für seine geschäftlichen Verbindungen nützlich waren. Der Friedhof, den Benjamin Moses 1804 nach dem Tod seiner Frau anlegte, ist die älteste jüdische Begräbnisstätte im Siegerland, die erhalten geblieben ist.

Das südwest­fä­li­sche Sieger­land gehört zu jenen Regionen in Deutsch­land, in denen sich jahr­hun­der­te­lang keine Juden ansie­delten durften. Die älteste urkund­liche Erwähnung von Juden in Siegen stammt aus dem Jahr 1253, doch die mittel­alterliche jüdische Gemeinde wurde vermut­lich während der Pest­po­grome 1349/50 ausge­löscht. Bis in die napo­leo­ni­sche Zeit hinein (um 1800) verwei­gerte das Fürs­ten­haus Nassau Jüdinnen und Juden das Aufent­halts­recht im Sieger­land. Erst als unter dem Einfluss der Fran­zö­si­schen Revo­lu­tion (1789) und der Aufklä­rung den Juden in den deutschen Landen mehr Rechte und Frei­heiten gewährt wurden, konnte sich 1815 zum ersten Mal seit dem Mittel­alter eine jüdische Familie in Siegen nieder­lassen. Es dauerte jedoch weitere drei Jahr­zehnte, ehe ihr 1843 die Stadt das Bürger­recht gewährte.

Ein nennens­wertes jüdischen Leben in Siegen lässt sich ab 1867 verzeichnen, als mehrere jüdische Familien aus dem angren­zenden Sauerland und Witt­gen­stein in die wachsende Indus­trie­stadt zogen. 1884 gründeten sie eine Gemeinde, die sich zwanzig Jahre später (1904) eine Synagoge errich­tete. Die Gemeinde, die meist um die hundert Mitglieder zählte, bestand jedoch keine sechs Jahr­zehnte: Im Februar 1943 wurden die letzten Siegener Jüdinnen und Juden in die national­sozialistischen Vernich­tungs­lager depor­tiert. Zuvor hatten am 10. November 1938 Siegener SS- und SA-Männer die Synagoge in Brand gesteckt und zerstört. Seit 1945 lebten und leben nur verein­zelt Jüdinnen und Juden in Siegen.

Juden im mittelalterlichen Siegen bis 1350

Zwischen dem 11. und 13. Jahr­hun­dert wurden vor allem an Flüssen und Handels­straßen zahl­reiche neue Städte gegründet, in denen sich auch Juden nieder­ließen. Häufig befanden sie sich auf Grund und Boden eines Erzbis­tums, so wie das knapp hundert Kilometer östlich von Köln gelegene Siegen. Die Kölner Erzbi­schöfe waren bestrebt, möglichst große Einnahmen aus dem „Juden­schutz“ zu gewinnen, sodass sie die Ansied­lung von Juden in ihren weit verstreut liegenden Besitz­tü­mern förderten. Dem Erzbistum Köln gehörte jedoch nur die Hälfte der etwa 700 Einwohner zählenden Stadt, die 1097 als Sigena zum ersten Mal urkund­lich erwähnt worden war; es musste sich die Herr­schaft mit den örtlichen Grafen von Nassau teilen.

Einem Vertrag zwischen den beiden Parteien ist die erste urkund­liche Erwähnung von Juden in Siegen zu verdanken: 1253 regelten Erzbi­schof und Grafen die Vertei­lung ihrer Einnahmen aus Zoll, Münze, Steuern und dem Schutz­geld, das die Juden zu zahlen hatten. Die Formu­lie­rung „wenn der Zuwachs an Juden anhält“ deutet darauf hin, dass schon länger Juden in Siegen lebten. 1278 wird eine aus Siegen stammende Jüdin nament­lich erwähnt: Sara, die Witwe eines Rabbiners namens Salomon Hakohen. Sie erwarb von der Tochter des verstor­benen Kölner Ober­rab­bi­ners Samuel einen Anteil an deren Haus in der Engler­gasse zu Köln.

Über die Anzahl der ersten Juden in Siegen ist nichts bekannt. Schät­zungen, dass es etwa 25 Familien gewesen seien, sind wahr­schein­lich nicht zutref­fend, denn eine solch große Gemeinde hätte Spuren hinter­lassen müssen. Vermut­lich teilten die Siegener Juden das Schicksal der unge­zählten Gemeinden, die während der Pest­po­grome von 1349/50 ausge­löscht wurden, denn über 400 Jahre lang finden sie keine Erwähnung mehr in den Chroniken.

1350 bis 1806: Judenfeindliche Gesetze im Fürstentum Nassau-Siegen

Die Herr­schaften des Fürs­ten­tums Nassau-Siegen gehörten zu jenen Klein­herr­schern, die im zersplit­terten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation Juden auf ihren Terri­to­rien nicht duldeten: Seit 1515 erließen sie immer wieder Anord­nungen, in denen sie Juden unter­sagten, sich ohne ausdrück­liche Geneh­mi­gung in ihren Ländern aufzu­halten. Ihren christ­li­chen Unter­tanen verbot das Fürs­ten­haus, mit Juden zu handeln und Gemein­schaft zu haben oder sich gar Geld von ihnen zu leihen.

Erst nach dem Drei­ßig­jäh­rigen Krieg (1618–1648) lockerten auch die Nassauer etwas ihre anti­jü­di­sche Politik. Zumindest zu den fünf großen Märkten im Jahr durften einzelne jüdische Händler die Stadt Siegen betreten, aller­dings jeweils nur für zwei Tage. Die Verord­nungen begannen jedes Jahr mit demselben Satz: „Empfang von Italie­nern, Franzosen, Krämern und Juden.“ Außerhalb dieser Jahr­märkte wurden Juden – wie auch die „Hausierer, Gängeler, Quack­salber, Land­strei­cher, Thüringer und Brabanter“ – jedoch weiterhin nicht geduldet. Die Begrün­dung: „Da sonst die allhie­sige Krämer­schaft Schaden erleiden würde“. Handels­juden wurde auch dann die Aufnahme verwehrt, wenn sie ihren Bitt­schreiben Führungs­zeug­nisse ihrer bishe­rigen Wohnorte beifügten, die ihnen einen „tadel­losen Handel und Wandel“ bestä­tigten. Noch 1706 erneuerte die fürst­liche Obrigkeit das Privileg für die Siegener Kaufleute, „dass Juden die Nieder­las­sung und Gründung von Geschäften untersagt“ war. Dieses Privileg, das 1770 bekräf­tigt wurde, sollte 140 Jahre in Kraft bleiben. Es wurde erst mit der Gewerbe-Ordnung von 1845 aufgehoben.

Gleich­wohl gab es auch einige wenige Juden, denen die nassaui­schen Fürsten wohl­ge­sonnen waren: ihren Hofjuden. Die soge­nannten Hofjuden dienten als Kredit­ver­mittler, Finanz­be­rater und Faktoren (Beschaffer von Waren aller Art) den abso­lu­tis­ti­schen Fürsten, die nach dem Drei­ßig­jäh­rigen Krieg ihre zerstörten Lande wieder aufbauen mussten und auf die weit verzweigten Verbin­dungen jüdischer Familien zurück­griffen. Die Hofjuden und ihre Familien, deren Zahl auf maximal zwei Prozent der jüdischen Bevöl­ke­rung geschätzt wird, genossen Reich­tümer und Privi­le­gien, von denen andere Juden nicht einmal träumen konnten, waren aber zugleich – wie ihre mittel­al­ter­li­chen Vorfahren – auf Gedeih und Verderb den Launen ihrer Herrscher ausge­lie­fert. Als Berater war ihr Einfluss vielfach größer als der mancher Minister, aller­dings hatten sie als freie Unter­nehmer ein ungleich höheres finan­zi­elles Risiko zu tragen. Kaum ein Provinz­fürst wollte auf die Dienste eines »Hofbe­reiten Juden« verzichten, wie die jüdischen Kammer­diener und Haus­hof­meister erstmals 1582 in Wien genannt worden waren. So hielt sich auch der Fürst von Nassau-Siegen stan­des­gemäß seine Hofjuden, denen er auf fünf Jahre befris­tete Schutz­briefe gewährte. Diese Kammer­diener oder Haus­hof­meister durften, um etwa die Fleisch­ver­sor­gung des Hofes zu gewähr­leisten, im „ganzen Land handeln und wandeln“.

1806–1867: Einsamer Kampf einer jüdischen Familie um das Bürgerrecht

Während der Zeit der napo­leo­ni­schen Besatzung des Sieger­landes (1806–1813) nutzten einige wenige jüdischen Händler und Kaufleute die neuen Frei­heiten, um sich vorüber­ge­hend in Siegen aufzu­halten. 1810 zog auch der 1788 im Hessi­schen geborene Händler Isaac Rosenberg in die Stadt – er ist der erste nament­lich erwähnte Siegener Jude. Rosenberg wollte dauerhaft bleiben, denn 1815 bean­tragte er das Bürger­recht. In jenem Jahr lebten 3052 Refor­mierte, 545 Katho­liken und 30 Luthe­raner in der Stadt Siegen.

Rosen­bergs Kampf um das Bürger­recht währte fast drei Jahr­zehnte, ehe es ihm – jedoch nicht seiner Ehefrau Betty – 1843 endlich gewährt wurde. Die Rosen­bergs waren mit ihren sieben Kindern und zwei Mägden die erste jüdische Familie in Siegen seit dem Mittel­alter. Sie blieben auch lange die einzige, denn erst im Dezember 1848 erhielt mit dem aus Lenhausen im Sauerland stam­menden Händler und Metzger Isaac Lenneberg ein zweiter Jude das Aufent­halts- und Bürger­recht; ebenfalls gegen heftige Wider­stände. Mit dem Zuzug der Familie Lenneberg stieg die Zahl der in Siegen lebenden Jüdinnen und Juden auf 23 an (1849).

Der Aufschwung war jedoch nicht von Dauer, denn die kleinen Geschäfte, die beide Familien betrieben, sicherten ihnen kaum das Überleben. Ihre wirt­schaft­liche Situation war derart prekär, dass die Kinder nach auswärts heira­teten oder nach Amerika auswan­derten. Ihre Toten bestat­teten die Rosen­bergs und Lenne­bergs auf den Fried­höfen in Burg­hol­ding­hausen oder im sauer­län­di­schen Neuenkle­us­heim, wo sich auch die nächst­ge­le­gene Synagoge befand. 1855 wohnten nur noch Isaac und Betty Rosenberg mit einer Enkelin und einer Magd in Siegen. Nach dem Tode ihres Mannes verließ 1858 Betty Rosenberg die Stadt. Von 1859 bis 1867 lebten keine Jüdinnen und Juden in Siegen.

Text: Uwe von Seltmann (2021)

These words are dedicated to those who died
because death is a punish­ment
because death is a reward
because death is the final rest
because death is eternal rage
These words are dedicated to those who died
Bashert

These words are dedicated to those who survived
because life is a wilder­ness and they were savage
because life is an awakening and they were alert
because life is flowering and they blossomed
because life is a struggle and they struggled
because life is a gift and they were free to accept it
These words are dedicated to those who survived
Bashert

Ausschnitt aus dem Gedicht „bashert“ von Irena Klepfisz