Reichspogromnacht
Die Zerstörung der Synagoge wurde von dem Siegener Amateurfotografen Erich Koch (1914–1986) festgehalten. Der gelernte Kaufmann kam zum Tatort, als das Gebäude bereits in Flammen stand. Die Rechte für die Fotoserie liegen beim Siegerländer Heimat- und Geschichtsverein. Der Verein Aktives Museum stellte die Bilder am 9. November 2018 zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor.
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Es war ein Einschnitt in der Weltgeschichte: Zum ersten Mal stand der Führer einer Partei, die sich ausdrücklich und unübersehbar dem Kampf gegen das Judentum verschrieben hatte, an der Spitze eines Staates. Die bürgerlich-konservativen Politiker und Industriellen, die dem Judenhasser Adolf Hitler zur Macht verhalfen, nahmen es zumindest billigend in Kauf, dass den Juden Unheil drohte, denn die Lunte war seit Langem gelegt: Seit 1920 hatten sowohl Hitler als auch seine Partei, die NSDAP, kein Geheimnis daraus gemacht, dass für sie die jüdischen Deutschen keine „Volksgenossen“ waren, also nicht zu Deutschland gehörten.
Das Unheil für die Juden nahm auch im Siegerland rasch seinen Lauf. Wie überall im Deutschen Reich mussten auch die Siegerländer Juden schon bald ihre Geschäfte schließen und weit unter Wert verkaufen. Aus dem größten Siegener Kaufhaus, das 1927 die Warenhausdynastie Leopold Tietz eröffnet hatte, wurde bereits im Juli 1933 der „arische“ Kaufhof. Ingesamt wurden 24 jüdische Firmen und Geschäfte zwischen 1933 und 1939 in Siegen „arisiert“, was im Klartext heißt: von zumeist Siegener Geschäftsleuten zu einem Schnäppchenpreis übernommen.
Am 15. September 1935 definierten deutsche Politiker und Juristen in den sogenannten Nürnberger Rassengesetzen – dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ und dem „Reichsbürgergesetz“ –, wer überhaupt jüdisch war und wer nicht. Sie machten auch diejenigen wieder zu Juden, die sich nicht mehr als Juden fühlten, die keine mehr sein wollten, die zum Christentum übergetreten waren und sich innerlich so weit vom Judentum entfernt hatten, dass sie es nur noch vom Hörensagen kannten.
Doch noch immer hoffte ein Großteil der deutschen Judenheit, dass die über 300 antijüdischen Erlasse, Verordnungen und Gesetze, die täglichen Übergriffe und Demütigungen in die lange Reihe der Verfolgungen einzureihen waren und sich irgendwann wieder legen würden. Auch im Siegerland dachten nur wenige Juden an Flucht oder Auswanderung. Eine Gruppe junger Leute emigrierte nach Palästina, doch die meisten glaubten weiterhin an eine Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland. Sie waren in der dritten und vierten Generation im Siegerland verwurzelt und hofften, dass die „Hitlerei“ ebenso schnell vergehen würde wie die kurzlebigen Regierungen der Weimarer Republik zuvor. 1936 schien sich die Situation tatsächlich etwas zu entspannen: Um die Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin nicht durch einen Boykott des Auslands zu gefährden, reduzierten die Nationalsozialisten zumindest die öffentlich sichtbaren judenfeindlichen Aktionen.
1938 eskalierte dann die staatliche Gewalt gegen die Juden. Als im März mit dem sogenannten Anschluss Österreichs weitere rund 190.000 Juden unter die nationalsozialistische Herrschaft kamen, begann die systematische Enteignung der jüdischen Bevölkerung im nun „Großdeutschen Reich“; ihre Vermögen wurden eingezogen. Im August wurden die Juden gezwungen, die zusätzlichen Vornamen „Sara“ beziehungsweise „Israel“ anzunehmen, ab Oktober wurde ihnen ein großes „J“ in den Ausweis gestempelt. Ende Oktober wurden zwischen 16.000 und 18.000 polnische Juden aus dem Reich ausgewiesen – es war die erste Massendeportation von Juden aus Deutschland.
Unter den Deportierten waren mindestens zehn Jüdinnen und Juden aus dem Siegerland – und die Familie von Herschel Grynszpan, der in Paris lebte. Der 17-jährige Grynszpan wollte mit einem Attentat auf einen eher unbedeutenden Beamten der deutschen Botschaft auf die verzweifelte Situation der Deportierten aufmerksam machen – mit fatalen Folgen: Das Attentat wurde von der NS-Propaganda zu einem Anschlag des „internationalen Judentums“ auf das Deutsche Reich hochstilisiert. Nun hatte das NS-Regime den Vorwand für ein Pogrom gegen die deutschen Juden, das es bereits seit Längerem geplant hatte. Zwischen dem 7. und 13. November wurden mindestens 1300 Juden ermordet, mehr als 1400 Synagogen, Betstuben und Versammlungsräume in Brand gesteckt oder geplündert, jüdische Friedhöfe geschändet, über 7500 Geschäfte und Wohnungen zerstört. Höhepunkt der Gewaltaktionen war die Nacht vom 9. auf den 10. November, dem Geburtstag Martin Luthers, in der sich dessen Forderungen aus seiner Hetzschrift Von den Juden und ihren Lügen von 1543 erfüllten: die Synagogen niederzubrennen und die Häuser der Juden zu zerstören. Wegen des zerbrochenen Glases, das überall sichtbar war, wurde die Pogromnacht lange „Kristallnacht“ genannt.
Vergleichsweise spät, um die Mittagszeit des 10. November 1938, fiel auch die Siegener Synagoge den Flammen zum Opfer. Der neue SS-Hauptsturmführer in Siegen, der Lehrer Heinrich Lumpe, hatte offensichtlich nichts von der Existenz einer Synagoge gewusst und wurde erst durch einen Anruf seines Vorgesetzten auf sie aufmerksam gemacht. Sogleich stellte Lumpe eine Gruppe von zehn bis zwölf SS- und SA-Männern zusammen, denen er Zivilkleidung anordnete. Am helllichten Tag drangen sie in das Gebäude ein und errichteten aus Holzbänken, Harmonium und Predigtpult einen Scheiterhaufen. Rasch breitete sich das Feuer aus, auch die Wohnung der Hausmeisterfamilie geriet in Brand. Die Feuerwehr konzentrierte sich darauf, das Überspringen des Feuers auf die umliegenden Gebäude zu verhindern. Die zahlreichen Schaulustigen verhielten sich ruhig, weder Beifallsbekundungen noch Protest waren zu vernehmen. Einzig ein Arzt aus der Nachbarschaft, zu dessen Patienten Mitglieder der jüdischen Gemeinde zählten, rief aus dem Fenster: „Was macht ihr denn da für eine Schweinerei?“
Die Täter gingen anschließend in die Gaststätte Jüngst, um in dem Stammlokal der SS die „Judenaktion“ zu feiern. Sechs von ihnen wurden 1948 „wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und schwerer Brandstiftung“ angeklagt. Die Urteile fielen äußerst milde aus: Drei Männer wurden freigesprochen, drei zu Haftstrafen von maximal einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, die jedoch verkürzt oder gar ausgesetzt wurden. Die Angeklagten seien nur „Werkzeuge anderer“ gewesen , hieß es in der Urteilsbegründung. „Ihre Einsicht in das Unrecht ihrer Tat“ sei durch die „Propaganda, der sie jahrelang ausgesetzt waren, erheblich beeinträchtigt“ worden.
„Die Siegener Synagoge ist nicht mehr!“, jubelte am 11. November 1938 die Siegener National-Zeitung. „Sie liegt in Schutt und Asche. Wo einst die jüdische Mischpoche ihrem fremdländischen Ritus huldigte, liegen heute verkohlte Balken und zertrümmerte Gemäuer. […] Hunderte, ja tausende von Volksgenossen standen auf den anliegenden Straßen, als endlich der Judentempel im lichten Feuermeer verbrannte. Das Judentum ist gefallen. Nie wieder wird es aufgerichtet.“
Wolfgang Benz
Direkt im Anschluss an die Zerstörungen wurden am 10. November über 30.000 männliche, meist jüngere und wohlhabendere Juden in »Schutzhaft« genommen – rund ein Zehntel der noch in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung. Sie wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Tausend von ihnen wurden in den Lagern ermordet oder starben an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen. Die jüdischen Männer aus Siegen wurden ausnahmslos verhaftet, zunächst in der Stadt inhaftiert und dann nach Sachsenhausen deportiert. Mindestens 300 Jüdinnen und Juden nahmen sich nach dem Pogrom das Leben, in Siegen Frieda Löwenstein und ihre Tochter Betty Windecker. Ihr Mann und Vater Siegfried Löwenstein folgte ihnen in den Tod, nachdem er krank und gebrochen aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden war.
Das Fragment der Thorarolle ist eines der wenigen Dinge, die von der Jüdischen Gemeinde Siegen geblieben ist. Das Blatt war von dem 14-jährigen Gymnasiasten Heinrich Kretzer aus dem Brandschutt gerettet worden. Heinrich Kretzer gehörte zu den Schülern des städtischen Realgymnasiums, die von ihren Lehrern zum Brandort geschickt wurden, damit sie „die neue Zeit“ miterleben sollten. Kretzer nahm das Pergament an sich, trug es unter seinem Pullover versteckt nach Hause und heftete es in seinen Kleiderschrank: Man dürfe nicht vergessen, was passiert sei, begründete der Schüler sein mutiges Handeln. Heinrich Kretzer starb im Oktober 1944 im Alter von zwanzig Jahren als Wehrmachtssoldat.
Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich sein jüngster Bruder Rolf an das Fragment: Das Aktive Museum Südwestfalen (AMS) hatte im Sommer 1995 die Siegener Bürger aufgerufen, nach Dingen aus der NS-Zeit zu suchen. Rolf Kretzer übergab die Seite dem Museum, wo sie heute zu sehen ist.
Nach der Pogromnacht stieg die Zahl der Jüdinnen und Juden, die Deutschland verlassen wollten, rapide an. Etwa 130 000 – so viele wie in den gesamten fünf Jahren zuvor – ließen ihr Hab und Gut zurück und machten sich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Wer konnte, verließ auch das Siegerland: Bis zum Verbot der jüdischen Auswanderung am 23. Oktober 1941 waren es etwa vierzig Prozent der Siegerländer Juden. Zurück blieben die Alten, Kranken – und Männer, die Verantwortung trugen wie Eduard Hermann, seit 1921 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Siegen. In seinem Haus traf sich nun die kleine Schar der Gläubigen zum Gottesdienst. Hermann hatte auch die Verhandlungen mit den NS-Behörden zu führen, die von der Gemeinde den Abbruch der Ruine und den Verkauf des Grundstücks verlangten.
Die Kosten des Abbruchs hatte die Gemeinde zu übernehmen, das Grundstück ging am 20. Juli 1940 – fast auf den Tag genau 36 Jahre nach Einweihung der Synagoge – weit unter Wert an die Stadt Siegen. 1941 baute die Stadt auf dem Grundstück einen Luftschutzbunker. Nichts sollte mehr daran erinnern, dass hier eine Synagoge gestanden hatte.
Für die in Deutschland verbliebenen Juden wurde die Situation immer unerträglicher. Ab September 1941 hatten sie einen gelben „Judenstern“ zu tragen, der viele nicht mehr aus dem Haus gehen ließ, weil sie Angst hatten, auf offener Straße verprügelt zu werden. Im Oktober 1941 begannen die Deportationen in die Vernichtungslager. Mindestens 160.000 deutsche Juden sollten nicht mehr zurückkehren. Aus dem Kreis Siegen wurden 40 Jüdinnen und Juden am 28. April 1942 nach Zamość nahe dem Vernichtungslager Belzec deportiert, 24 am 27. Juli 1942 nach Theresienstadt und 15 am 28. Februar 1943 nach Auschwitz. Noch im September 1944 wurden jüdische Frauen aus dem Siegerland, die mit Nichtjuden verheiratet waren, oder sogenannte Mischlinge in das KZ Kassel-Bettenhausen deportiert, einem Außenlager von Buchenwald.
Als der Müsener Bergmann Heinrich Marburger, geboren 1887 in Fischelbach bei Laasphe, von der Zerstörung der Siegener Synagoge erfuhr, sagte er: „Das ist das Ende der Nazis.“ Zur Begründung zitierte er einen Vers aus dem Buch des Propheten Sacharja: „Wer mein Volk antastet, der tastet den Augapfel Gottes an.“ Die Stadt Siegen wurde am 16. Dezember 1944 und bei weiteren Bombenangriffen der Alliierten fast völlig zerstört. Am 8. Mai 1945 erklärte Nazi-Deutschland seine bedingungslose Kapitulation.
Text: Uwe von Seltmann (2021)