Die Synagoge Siegen

Die von dem renommierten Berliner Architekten Eduard Fürstenau (1862–1938) entworfene Synagoge war nach den Regeln eines gemäßigt-orthodoxen Judentums gestaltet: Frauen und Männer saßen streng getrennt – der Gottesdienstraum bot unten 90 Sitzplätze für Männer und auf der Empore 70 Plätze für Frauen. Zugleich bot der Raum Platz für einen Chor und ein Harmonium, das in streng-orthodoxen Gemeinden verpönt war. Für eine Orgel fehlte der Gemeinde das Geld – so wie auch für eine Heizung, die erst 1929 eingebaut wurde. Das Gebäude enthielt desweiteren einen Schulraum, ein rituelles Bad, Abstell- und Umkleideräume, Toiletten und eine Hausmeisterwohnung.
Fürstenau war zur selben Zeit in Dortmund und Bielefeld für den Bau zweier weiterer Synagogen verantwortlich. Die 1900 beziehungsweise 1905 eingeweihten Synagogen waren ungleich größer als die Siegener. Gleichwohl werden die drei als „Schwesternsynagogen“ bezeichnet.
Als am 23. Juli 1903 der Grund­stein für die Siegener Synagoge gelegt wurde, fand das Ereignis in der gesamten deutschen Judenheit Beachtung: Die in Berlin erschei­nende Allge­meine Zeitung des Judentums würdigte in ihrer Ausgabe vom 31. Juli den „feier­li­chen Akt“ mit einem ausführ­li­chen Beitrag. Der Bericht­erstatter verwies auf die besondere Situation der Siegener Gemeinde, denn sie befinde sich in „dem Hauptorte im Wahl­kreise Stöckers, wo das Judentum ohnehin gegen Vorur­teile und falsche Vorstel­lungen genug zu kämpfen hat.“ So müsse ihr „besonders daran gelegen sein (…), auch nach außen würdig aufzutreten.“
Die Urkunde zur Grund­stein­le­gung wurde von Simon Grünewald verfasst. Sie enthält unter anderem einen Abriss der Geschichte der Siegener Juden seit 1815. Neben der Urkunde wurden auch die Statuten für die Synago­gen­ge­meinde und des Israe­li­ti­schen Frau­en­ver­eins sowie die Fried­hofs­ord­nung für den jüdischen Begräb­nis­platz in einer Kassette eingemauert.
Innenaufnahme der Synagoge Siegen [Quelle: Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur]
Die Bauarbeiten gingen rasch voran, sodass bereits am 15. Oktober 1903 das Richtfest gefeiert werden konnte. Die Siegener Zeitung zeigte sich beeindruckt von dem „Gebäude mit seinen gefälligen Formen“: Es verändere „das Bild des östlichen Teils unserer Stadt nicht zu seinem Nachteil.“
Die Allge­meine Zeitung des Judentums berich­tete auch von der „erhe­benden Feier“ der Einwei­hung der Synagoge am 22. Juli 1904. In der Aufzäh­lung der Ehren­gäste, zu denen der Landrat, der Bezirks­kom­man­deur, der Land­tags­ab­ge­ord­nete und die am Bau betei­ligten Hand­werks­meister zählten, fehlten jedoch die Namen der Pfarrer: „Die Geist­li­chen beider Konfes­sionen, denen Einla­dungen zuge­gangen, hatten nicht Folge geleistet.“ Neben den protes­tan­ti­schen und katho­li­schen Pfarrern fehlte auch der Bürger­meister der Stadt Siegen. Die Abwe­sen­heit des Stadt­ober­haupts und der Reprä­sen­tanten der Chris­ten­heit war unge­wöhn­lich: In anderen Städten, in denen während des Kaiser­reichs Synagogen einge­weiht wurden, waren Bürger- und Chris­ten­ge­meinde reprä­sen­tativ vertreten.
Örtlicher Bauherr der Synagoge war der Siegener Architekt Hermann Giesler (1865–1941). Seine Söhne Paul (1895–1945) und Hermann (1898–1987), die ebenfalls Archi­tekten wurden, schlossen sich früh­zeitig der national­sozialistischen Bewegung an und nahmen hohe Ränge in der SA ein. Beide Brüder zählten zur Führungs­elite im NS-Staat: Paul unter anderem als Gauleiter von Westfalen-Süd und als baye­ri­scher Minis­ter­prä­si­dent, Hermann als Vertrauter Hitlers. Nach dem Untergang Nazi-Deutsch­lands entzog sich Paul seiner Verant­wor­tung durch Selbst­mord. Hermann wurde 1947 von einem US-ameri­ka­ni­schen Mili­tär­ge­richt wegen Tötungs­ver­bre­chen zu lebens­langer Haft verur­teilt, doch bereits 1952 aus dem Gefängnis entlassen. Er blieb bis zu seinem Tod 1987 über­zeugter Nationalsozialist.

Text: Uwe von Seltmann (2021)

„Die Geist­li­chen beider Konfes­sionen, denen Einla­dungen zuge­gangen, hatten nicht Folge geleistet.“

Allge­meine Zeitung des Judentums  (12. August 1904)